Radiowecker

Photo by Firdaus Roslan on Unsplash


"You are my sunshine, my only sunshine..." Sein Radiowecker klingelte an diesem Morgen wie jeden Tag um sieben Uhr, doch Thomas sprang diesmal mit großer Handlungslust ungewohnt schnell aus dem Bett; er überraschte sich förmlich selbst. Zum Wundern würde er aber später noch Zeit haben, jetzt musste er sich erstmal wie jeden Samstag für den wöchentlichen Einkauf fertig machen.
Die gute Laune war einem Brief von seiner Geliebten aus Schulzeiten zu verdanken, den er Tage zuvor erhalten hatte. Dass sie sich trennten, lag nun beinahe auf den Tag genau vierundvierzig Jahre zurück und sie hatten sich seitdem nur einmal gesehen, das war vor zwei Jahren. Nun schrieb sie ihm, dass sie "kommenden Sonntag" in die Stadt zurückkehre und ihn sehen wolle, der alten Tage zuliebe. Er erinnerte sich gerne an alte Tage zurück und das tat er täglich. Die meisten seiner Bekannten aus der Schulzeit hatten die kleine Heimatstadt als junge Erwachsene verlassen, einige kamen bereits im Sarg zurück und er wohnte jedem ihrer Begräbnisse bei. Auch derer, zu denen er niemals eine wirklich enge Beziehung gepflegt hatte oder wo die Entfernung das Verhältnis nach und nach zum Stillstand gebracht hatte. Er erinnerte sich an alle, hatte stets ihre jungen, verspielt lächelnden Gesichter in Erinnerung. Nur noch ein Tag, eine Nacht und er würde das Schönste von allen wiedersehen.

Das Telefon zeigte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter an, doch das konnte warten, es gab Dinge zu erledigen. Als erstes setzte er Kaffee auf; es gab einen Moment der Verwunderung, denn im Küchenschrank hätten noch acht Filter vorrätig sein müssen, er zählte dort nun aber nur sieben. Dann zog er sich seine Klamotten an und nutzte dafür die gesamte Fläche seiner Wohnung, tänzelte von einer Ecke in die nächste und nahm zwischendurch einen Schluck von seinem Kaffee. Während er sich seinen zweiten Schuh anzog, lehnte er sich, um das Gleichgewicht zu halten, an den kleinen Wandschrank im Flur, der mit der Zeit etwas verrutscht sein musste, sodass sich eine größere Lücke zwischen ihm und der Wand ergeben hatte. Jetzt, wo Thomas aufmerksam auf ihn werden musste, wirkte er auf ihn, als wären ihm wesentliche Teile seines Schrankseins abhanden gekommen. Er hatte eher etwas von... Naja, zumindest etwas, das keine Tür besitzt. Eine Mauer vielleicht. Der Schrank und dadurch auch Thomas kamen ins Wackeln; es war zu hören, wie Gegenstände hinter der Schranktür klapperten und umfielen. Thomas überkam ein Gefühl von Unruhe. Wie viele Jahre hatte er nicht mehr hineingesehen? Nichts in dem Schrank war von Nutzen, nur von Erinnerung. Lauter Gegenstände mit einzigartigen Geschichten, alle in Verbindung mit Namen aus seinen täglichen Rückblenden.

Sein erster Schuh fand sich schnell neben dem zweiten wieder, ehe er sich vor den Schrank setzte und ihn öffnete. Seine Augen erblickten als erstes ein Kartenspielset. Jedes Wochenende trafen sie sich mit seinen engsten Schulfreunden bei einem von ihnen zu Hause und spielten Karten, teilten sich am gleichen Abend im Dunkeln eine einzige Zigarette, weil eine größere Menge den Eltern, denen man sie jeweils klaute, aufgefallen wäre. Sie tauschten sich über das Leben aus, ließen sich gegen ihre Lehrer aus und standen sich stets zur Seite. Markus war immer der reifste in der Gruppe, auf ihn konnte man sich immer verlassen. In jeder noch so trostlosen Situation konnte er alle zum Lachen bringen und schien immer die richtigen Worte zu haben. Er konnte beängstigend gut mit Worten umgehen; aus seinem Mund klang alles wie aus einem Buch, aber man konnte ihn sich unmöglich mit einem Buch in der Hand vorstellen. Als der Vater von Thomas jung verstarb, hatte Markus zu ihm gesagt: "Wir werden uns alle anstrengen, damit du möglichst nur deinen Vater vermissen musst und nicht, was er alles für dich tat."
Hinter einem Kartenspiel griff er sich die Saiten seiner ersten Gitarre aus einer Staubschicht heraus, nahm sie an einem Ende in seine Faust und zog sie einmal der Länge nach komplett durch. Der Staub fiel zu Boden. "You make me happy, when skies are gray.", diesmal ganz so, als liefe der Wecker noch immer, aber es klang jetzt, als käme die Musik aus der Wohnung nebenan. Auf diesen Saiten spielte er damals Sofia, die er nun seit letzter Woche voller Sehnsucht und Vorfreude erwartete, seine ersten Lieder vor. Ihre Tränen, die sie an manchen Abenden dabei vergoss, sah er nun wieder in aller Klarheit vor sich. Bei dem Gedanken konnte er jetzt seine eigenen Tränen nicht mehr zurückhalten, so floss es ihm feucht über die Wangen.
Ehe er einen Umschlag vom Schrankboden hervorzog, musste er viel anderes Zeug herausnehmen und sich zu ihm vorarbeiten: Seine ersten Schuhe als Kleinkind, ein dickes Familienalbum, das seine Mutter geführt hatte, ein paar alte Bücher und Schulhefte. Mit dem Umschlag in der Hand begab er sich auf das Sofa im Wohnzimmer und hielt einige Minuten inne, bevor er den Brief entnahm:


Thomas,  

du musst dich schon lange fragen, weshalb ich dir auf deinen letzten Brief in so vielen Jahren nie geantwortet habe und du sollst wissen, dass es mich bis heute plagt. Es vergeht kein einziger Tag, das versichere ich dir, an dem ich nicht an unsere gemeinsame Jugend denke. Wir standen uns damals so nah.
Ich wünschte fast, letzteres wäre nicht der Fall gewesen, denn dein blindes Vertrauen in mich, oder meine Erinnerung, ist der Grund dafür, dass ich so lange mit diesem Brief gewartet habe. Der Mut hierzu hat mir lange Zeit gefehlt und nun habe ich ihn gefunden, doch an einem Ort, an dem ich ihn mir niemals erhofft hätte.
Dass ich die Stadt damals verlassen habe, war genauer betrachtet kein Verlassen. Die Heimat war immer gut zu mir. Welchen Grund hätte ein Mensch, etwas Gutes zu verlassen, außer den Traum von etwas Neuem, gar Besserem? Genau solch einem Traum bin ich damals gefolgt, denn ich hatte ihn satt und in deiner Gegenwart wäre es mir unmöglich gewesen, ihn zu verwirklichen.
Du wolltest dort niemals weg. Also entschied ich für mich, ein Leben fern der Heimat zu beginnen, welches ich als ein ganz neues zu sehen gewagt habe, ganz so, als wäre alles davor niemals geschehen. Nur so konnte ich mich vor mir selbst rechtfertigen, wenn du mir täglich in den Sinn kamst. Die Armseligkeit dieser Rechtfertigung und der Umstand, dich so lange in Unwissenheit zurückgelassen zu haben, sind mir heute stärker bewusst, denn je.
Eine Entschuldigung fällt mir nicht ein, jedoch bin ich schon bald wieder zurück. Du wirst wissen, wenn es soweit ist. Und ich hoffe, trotz allem, du wirst da sein, um mich zu sehen. 

Dein Freund 

Markus"


Der Brief war noch nicht so alt und auch wenn er es gewesen wäre, dann hätte es die Erinnerung an den Moment nicht trüben können, als Thomas kurze Zeit darauf Sofia an vorderster Stelle auf Markus' Beerdigung weinen sah. Da realisierte er, dass Markus nicht der Einzige war, der sein Leben fern von der Heimat gelebt hatte, als hätte es ein Davor niemals gegeben. Es gehörten zwei in diese Blase, die ein neues Leben beinhaltete. 

Das Sonnenlicht strahlte Thomas mitten ins Gesicht, sodass er seine Augen mit viel Mühe öffnete. Er lag in seinem Bett. Die Uhr zeigte viertel nach neun an und er ärgerte sich darüber, den Wecker überhört zu haben. Selbst die Gardinen muss er am Abend vergessen haben, zuzuziehen. Morgen sollte Sofia in die Stadt kommen und er hatte bis dahin noch einiges vor. Als wäre das alles nicht genug, fühlte er eine unerklärliche Trägheit, er war erschöpft.
Thomas machte sich sofort auf in die Küche, im Kaffee lag seine Hoffnung für das Gelingen dieses Tages. Zu seinem Erstaunen hatte er nur noch sechs Kaffeefilter vorrätig. Er hätte darauf schwören können, dass am Tag zuvor noch acht Stück übrig gewesen waren. Ohne sich länger verrückt machen zu lassen, machte er sich auf den Weg ins Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen. Auf dem weg sah er, dass sein Schrank im Flur durchstöbert worden war und überall Zeug auf dem Boden verteilt lag. Thomas eilte ins Wohnzimmer, um nach der Ordnung zu sehen und konnte sich nicht erklären, weshalb seine Gitarre vor dem Sofa lag, umgeben von zahlreichen alten Polaroids und daneben der Brief seines alten Freundes. Er bemerkte das Blinken des Anrufbeantworters und drückte den Knopf zum Abhören:

„Thomas, du hast nicht auf unsere letzte Nachricht reagiert, im Laden bist du auch noch nicht erschienen... Wir... Wir machen uns langsam Sorgen. Was mit Sofia passiert ist, das... tut uns allen sehr leid... Die Beerdigung ist wohl am Dienstag, also morgen schon. Wirst du da sein? Falls du bis Feierabend nicht antwortest, werde ich nachher mal vorbeischauen. Melde dich, wenn du das abhörst."
_

„Nostalgie ist wie eine Droge. Sie hindert einen daran, Dinge so zu sehen, wie sie sind.“ 
- Shane Walsh, The Walking Dead

Kommentare

Popular Posts