Immer Wiedersehen

Wir starrten beide Löcher in die Luft, in der etwas lag, das ich kurz für unser Miteinander hielt. Dann stopften wir sie unverzüglich mit Fragmenten unserer ausgeleierten Einsamkeiten, aus denen wir nie herausgewachsen waren und die wir nun gewaltsam zu kleinen Fetzen zerrissen. Wie ein alter Hausfrauentrick, konnten wir sie nie loslassen und in diesem Moment hatte er sich endlich ergeben: Der lange ersehnte Moment, in dem sich wieder ein Zweck für ein vermeintlich abgenutztes Etwas ergab.

Meine Oma verlangte früher immer nach meinen ausgetragenen Shirts und machte oft Putzlappen daraus. Ich beobachtete sie häufig dabei, wie sie die vielen Fingerabdrücke an den Fenstern fast täglich mit den Motiven meiner Kindheit wegwischte. Als Kind habe ich mich ständig gefragt, wieso sie das machte. So häufig. Ich schaute doch auch ständig aus diesen Fenstern nach draußen, aber die Abdrücke fielen mir nie auf; ich sah immer zu an ihnen vorbei. Was musste man erlebt haben, welches Stadium im Leben erreicht haben, damit einem Dinge wie Fingerabdrücke an den Fenstern auffielen und so sehr auf die Nerven gingen, dass man die Motivation in sich finden konnte, jeden Tag dagegen anzugehen?  

Einsamkeit scheint mir das nachhaltigste Gut auf der Welt, nur ohne einen bemerkenswerten Markennamen. Man kann gar nicht anders, als sie ständig wiederzuverwenden. Mit den Jahren konnte ich mir aber immerhin beibringen, es wenigstens mit dem Alleinsein aufzunehmen und meinen Anteil daran in der Wohnung einzusperren, bevor ich das Haus verließ. Aber auch dafür musste ich mir zunächst eine gewisse Ohnmacht eingestehen, als ich feststellte, dass ich dem Alleinsein nicht in den Arsch und es nicht über meine Türschwelle treten konnte. Es hatte etwas von einer Verhandlung: Ich bot ihm eine Komfortzone, es erlaubte mir dafür die Welt, solange ich am Ende des Tages immer wieder zurückkam. 

Unsere Blicke trafen sich nun gelegentlich und ergriffen im selben Moment die Flucht voreinander. Als hätten wir Angst davor, unserem Gegenüber etwas zu verraten. Allem voran uns. Wir hielten dieses Spiel an diesem abgedunkelten Ort ab, weil wir uns damit nicht ans Licht trauten. Es war, als hätten irgendwelche Fremde, die sich mit dem Spiel auskannten, ihre Blätter in unsere Hände gelegt und wären dann einfach verschwunden, ohne es uns beigebracht zu haben. Was wir wussten war nur, dass man sich seine Hand jeweils nicht zeigen sollte. Was nicht so schwer zu erraten war, schließlich wurden wir schon so ausgerichtet, dass wir uns zwar in die Augen schauten, jedoch nicht die Karten des Anderen sehen konnten. Also saßen wir so da und zeigten uns nichts. Unser größter Bluff: Dort zu sein und uns gegenüber zu sitzen, um den Eindruck zu erwecken, wir wollten auf diesem klebrigen Tisch unsere Karten aufdecken. Wir verstanden sie ja selber nicht.

Die Untersetzer auf dem Tisch besaßen ein Landkarten-Design. Sie schafften es aber nicht, an diesem heruntergekommenen Ort ein Gefühl von Herumgekommenheit zu verbreiten. Was hätte es auch für einen Sinn gemacht, unbedeutende Alltagsgegenstände mit so großen Versprechen zu bedrucken? Dann begann ich, Sehnsucht danach zu verspüren, nach dem Herumkommen. Da leuchtete es mir ein: Unser Alltag schien so gestaltet zu sein, dass er einem nichts Zweckdienliches mehr an die Hand gab, wie zum Beispiel einen einfachen, einfarbigen Untersetzer, um darauf ein Getränk abzustellen. Alles was uns umgab, gebar einen neuen Zweck, wenn wir nicht achtsam genug waren oder auch so achtsam waren, dass wir die Dinge zu unserem Wohl, zum Allgemeinwohl oder zu irgendeinem nur erdenklichen Wohl zweckentfremden konnten.   

So war es scheinbar unumgänglich, dass das erste Thema, mit dem wir die belästigende Stille bekämpften, unsere Traumreiseziele waren. Unterschiedlicher hätten unsere Antworten nicht ausfallen können; die Schere zwischen einer Reise in ein Dritteweltland für ein freiwilliges Jahr und einem Roadtrip quer durch die USA schien im ersten Moment nicht zu schließen. Aber ehe wir uns versahen, sprachen wir darüber, beide Reisen gemeinsam anzutreten und Hauptsache endlich mal einen Anfang mit dem Erfüllen unserer Träume zu finden. So kamen zwei neue Aussichten zur Welt: Eine gute Tat, für die bis dahin die nötige Courage gefehlt hatte, und ein persönliches Abenteuer, dem ansonsten weiterhin fehlendes Selbstwertgefühl im Weg gestanden hätte.

Wir konnten den Fluchtreflex unserer Augen inzwischen täuschen und richteten sie jetzt mit einer zwischen den Zeilen vereinbarten Selbstverständlichkeit aufeinander. Nachdem wir über unser erstes Reiseziel entschieden hatten, umarmten wir uns auch schon vorerst zum Abschied. Ich bot noch eine Mitfahrgelegenheit an, welche dankend abgelehnt wurde. Dann ging jeder für sich nach Hause.

Ich schloss die Tür auf und betrat meine Wohnung. Etwas war laut. So laut, dass ich meine Gedanken nicht hören konnte. Etwas war auch vertraut. So vertraut, dass ich wusste, was ich nun zu tun hatte. Ich schenkte mir ein Glas Wein ein und öffnete meine Schublade, in der ich meine zwei Untersetzer aufbewahrte. Einen nahm ich mit und setzte mich in meinen Sessel. Ich legte mir mein Notizbuch auf den Schoß und schlug eine unbeschriebenen Seite auf. In eine Hand nahm ich dann meinen Stift und den Wein in die andere, legte meine Arme erstmal auf den Lehnen ab und sank in meinem Sessel in eine angenehme Tiefe. Um das Glas herum wurde es still. Das klang aber nicht nach Abwesenheit. Ich setzte zum Schreiben an:

"Wiedersehen. Immer und immer wieder.",  und nahm einen Schluck.

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Kevin Lomax: "Are we negotiating?"

John Milton: "Always!"

- Devil's Advocate (1997)

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Photo by Jacky Watt on Unsplash




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